Dental Ethics
-
15
.
08
.
24
Ethisches Dilemma: Dissens zwischen Zahnarzt und Mutter nach Anwendung der KI-Kariesdiagnostik
Fallbeschreibung
Frau M. ist treue Patientin bei dem Zahnarzt Dr. KM. Ihre privat krankenversicherten Söhne sind 15 und 12 Jahre alt und werden ebenfalls von Dr. KM betreut. Die beiden Jungen hatten in den letzten Jahren eine recht hohe Kariesfrequenz, doch mittlerweile hat sich die Compliance verbessert und bei der klinischen Untersuchung zeigen sich die Gebisse der beiden kariesfrei. Dr. KM schlägt bei der Routineuntersuchung der beiden Jungen sicherheitshalber noch Bissflügelaufnahmen vor. Er erklärt der Mutter und den beiden Söhnen, dass er für die Röntgenaufnahmen in seiner Praxis ganz neu über eine KI-unterstützte Kariesdetektion verfügt, die er als besonderen Service sogar kostenfrei anbietet. Frau M und ihre Söhne finden eine radiologische KI-Diagnose als „Zweitmeinung“ gut.
Die radiologische KI-Diagnostik weist bei dem älteren Sohn zwei Stellen mit approximaler Karies nach, die bereits das Dentin erreicht hat. Dr. KM klärt auf, dass er keinen Schatten oder irgendeine Auffälligkeit an diesen Stellen im Mund sieht, auch nicht mit Kaltlicht, aber natürlich diese zwei Zähne in der herkömmlichen Weise exkavieren und füllen wird, da die KI-Diagnostik als sicher gilt und er diese hier auch gar nicht anders überprüfen kann. Wenn er das Röntgenbild betrachte, sehe er selbst nur ganz zart, dass hier eine kleine Karies vorliegt. Allerdings gibt die KI bei dem 15-Jährigen noch fünf weitere Stellen an, bei denen eine Initialkaries approximal im Schmelzbereich von der KI erkannt wird. Auch bei dem jüngeren Bruder gibt die KI-Diagnostik mehrere Stellen mit initialer Schmelzkaries im approximalen Bereich an. Dr. KM erklärt der Mutter, dass diese neue, nur im Schmelzbereich befindliche Karies mit einer Infiltrationsbehandlung zu stoppen sei. Dies sei die adäquate und indizierte Behandlung bei der jungen Karies. Er könne ja nicht diesen Befund außer Acht lassen, so dass die Karies weiter floriert, auch wenn er selbst diesen Befund auf dem Röntgenbild nicht erkennen kann; eben dafür habe man ja nun die KI.
Frau M erhält danach einen Kostenvoranschlag zur Unterschrift für die Behandlung der Initialkaries, der sich auf 5x 150 € für den älteren Sohn, und 7x 150 € für den jüngeren Sohn beläuft, insgesamt 1800 €. Sie ist irritiert davon, dass es sich um Analogpositionen handelt und der Kostenvoranschlag den Vermerk enthält, eine Erstattung durch die Krankenversicherung sei möglicherweise nicht gewährleistet. Daher gibt sie bei Dr. KM an, sie wolle zunächst einmal mit der PKV telefonieren. Tatsächlich erhält sie dort die Auskunft, dass die analog zu berechnenden Leistungen für die beiden Kinder nicht von der PKV erstattet werden. Frau M ist sehr irritiert, denn die Karies wurde ja durch die KI eindeutig nachgewiesen und es sind Kinder; sie kann gar nicht verstehen, wie es sein kann, dass die private Krankenversicherung die Behandlung der insgesamt zwölf positiven Befunde der KI-Diagnostik nicht bezahlen möchte. Würde sie diese Kosten selbst tragen, so müssten die Kinder nun überraschend auf die Sommerfreizeit im Ausland verzichten. Frau M geht daher noch einmal auf Dr. KM zu und fragt, ob denn diese Therapie wirklich nötig sei, oder ob es Alternativen gibt, die die Krankenversicherung bezahlt, oder ob man nicht einfach beobachten und abwarten könne, schließlich habe sich die Mundhygiene der Kinder ja deutlich gebessert.
Dr. KM überlegt: wenn er sich mit der Mutter darauf einigt, dass man abwarten und beobachten wolle – bei insgesamt 12 Stellen – so bedeutet dies für ihn einen ziemlichen Zeitaufwand, um das Gespräch und die Argumente in der Kartei zu dokumentieren, gleichwohl muss er davon ausgehen, dass irgendwo eine Initialkaries weiter voranschreiten könnte und die Mutter ihn später doch noch zur Rechenschaft zieht, weil er nicht zeitnah behandelt hat, so dass ihm letztlich auch die Dokumentation bei einer ungünstigen Entwicklung nicht helfen würde. Außerdem soll sich die Anschaffung der KI-Software ja amortisieren, und dass es sich bei der Behandlung der Initialkaries um Analogleistungen handelt, ist ja eigentlich nicht sein Problem, sondern das des Patienten. Andererseits möchte er die ganze Familie, die treue Patienten der Praxis sind, nicht verlieren; er möchte überhaupt keinen Dissens wegen dieser Sache. Oder soll er die Initialkaries hier konventionell zweiflächig aufziehen, und damit möglicherweise den Zähnen unnötige Füllungen geben? Und soll er in Zukunft vielleicht gleich die konventionelle Füllung neben der minimalinvasiven Analogleistung als Option anbieten, um die Schwierigkeiten mit der Selbstzahlerleistung zu vermeiden, obwohl dies eine schädigende Übertherapie bei den Kindern darstellt?
Anmerkung des Autors:
Dieser Fall demonstriert, welche Probleme entstehen können, wenn die KI – unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch liegt – kleinste kariöse Läsionen identifiziert, die ansonsten nicht entdeckt worden wären. Hier könnte ein Impuls zur Überversorgung gesetzt werden. Das kann nun nicht unbedingt der KI als Technologie angelastet werden, sondern damit müsste sich dann die Sozialgesetzgebung befassen. Andererseits ist Abwarten in engen Grenzen eine Therapieoption lege artis; das würde den vorliegenden Fall etwas entschärfen.
War der Einsatz der KI hier nun vorteilhaft für den Patienten? Hätte der Zahnarzt beim Kauf der KI darüber nachdenken müssen, welche problematischen Kostellationen eintreten können: Schäden im Vertrauen, rechtfertigende Argumentationen, bis hin zum Dissens bei der Entscheidungsfindung?
Die Grundsatzfrage liegt in der Verortung der Verantwortung:
Diagnostische KI wird der "dritte Player" bei der Entscheidungsfindung.
Verantwortung und Haftung liegen jedoch allein beim Zahnarzt.
Brigitte Rohdich