Dental Ethics

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Behandlungsunmöglichkeit durch Fallkomplexität und Anorexie

Der Fall:

Die 12-jährige Nele ist in kieferorthopädischer Behandlung. Seit wenigen Monaten trägt sie Brackets, dazu einen Headgear. Die Behandlung verläuft zunächst wie bei der Zwillingsschwester ohne Probleme. Bald fällt jedoch auf, dass Nele starkes Untergewicht hat. Sie lacht und spricht auch nicht mehr während der Behandlungssitzungen. Die Mutter erzählt, dass sie nicht richtig essen möchte. Ein Termin wird abgesagt.

Nach einem weiteren Monat meldet sich die Mutter in der Praxis: es sei wegen des Untergewichts nun zur stationären Einweisung der Tochter gekommen. Die Zähne sähen jetzt irgendwie „so lang“ aus und es haben sich Lücken zwischen den Schneidezähnen gebildet. Ein paar Tage später kommt Nele in die Praxis. Tatsächlich hat sich ein „flaring“ der Front entwickelt wie man es von älteren Patienten mit parodontaler Problematik kennt. Es ist zu einem Attachment-Verlust gekommen und Zahnhälse liegen frei. Alle Zähne in beiden Kiefern sind gelockert und schmerzen. Die Tochter habe nach mehreren Anläufen erst zu dem stationären Aufenthalt eingewilligt, als sich auch kardiologische Probleme einstellten. In der Klinik fühle sie sich wohl. Der Schwerpunkt der Behandlung dort liege auf dem psychologischen Aspekt.

Beim Anlegen eines leichten lace auf den oberen Schneidezähnen, um die Diasteme zu schließen, kippen die parodontal geschädigten Zähne sofort in den Lückenschluss. Es wird vereinbart, dass die Multiband-Apparatur wegen des offensichtlich gestörten Knochenstoffwechsels  abgenommen werden und die kieferorthopädische Behandlung nur mit einem passiven Gerät fortgesetzt werden soll. Die Klinikärztin solle daher mit Vit C (nicht in flüssiger Formwegen der Erosion der Zahnhälse), Ca, Mineralien und Spurenelementen substituieren. Nachfolgend kommt es zum kollegialen Gespräch zwischen Zahnarzt und Klinikärztin. Eine Substitution war ihr bisher nicht bekannt. Gemeinsam suchen sie entsprechende zuckerfreie Präparate zur 4-monatigen Einnahme für Nele aus. Die Mutter ist mit dem Kauf und der Kostenübernahme (etwa 400 €) einverstanden. Als beim nächsten Behandlungstermin die Brackets abgenommen werden, hat Nele immer noch Schmerzen in allen Zähnen. Sie weint.  

     

Anmerkung des Autors:

Durch die Komplexität eines Falles kann der Behandlungsweg den Behandlungsalgorithmus verlassen. Wie geht der Behandler mit dem Patienten um, wenn die Behandlung fachlich unmöglich wird, ihm quasi ohne Schuld des Patienten und ohne Schuld des Behandlers entgleitet?

Im Übrigen: Ich habe in 25Jahren Zahnheilkunde - weder im Studium noch in der zahnärztlichen Presse - NIE etwas über die Folgen von langdauerndem hochgradigem Untergewicht auf die Zähne und den Alveolarknochen gehört oder gelesen. Erst jetzt wurde ich von der Firma hypo-A für Nahrungsergänzungsmittel auf einen Artikel hingewiesen, in dem am Rande von dem Zahnverlust bei einer jungen Frau aufgrund von Mangelernährung/ Anorexie zu lesen ist. Man kann dieses neuzeitliche Problem der Anorexie und ihrer Folgen auf die Mundgesundheit ja auch nicht doppelblind untersuchen und diese Patienten kommen auch nicht gezielt in die Zahnarztpraxis. Sie sind ja - quasi unverschuldet und als Teil der Krankheit - nicht krankheitseinsichtig, und das wird insbesondere dann ein Problem, wenn es über-18-Jährige betrifft, die selbst über ihre Therapie entscheiden.  

Dies ist eine Fallbeschreibung in Zahnärztlicher Ethik - als Gedankenanstoß und zur Diskussion.

Brigitte Rohdich, Fallbericht erstellt am 08.07.2017

Brigitte Rohdich