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Der offene Biss

Welcome to causal treatment!

 

Ursachen des offenen Bisses

Der frontal oder seitlich offene Biss ist zunächst einmal multikausal.

Einfluss nehmen die statischen (passiven) Funktionsstörungen wie Mundatmung, gestörter Mundschluss, adenoide Wucherungen, Haltungsschwäche sowie dynamische (aktive) Funktionsstörungen; dies sind Dyskinesien (Sprechfehler, fehlerhafte Bewegungsabläufe beim Kauen und Schlucken) und Parafunktionen. Neben solchen Habits wie Fingerlutschen, der stundenlangen Einlagerung von Flaschensaugern oder Beruhigungssaugern und anderen stereotypen unphysiologischen Bewegungen bewirkt auch die infantile, tiefe und nach vorn gerichtete Zungenposition in Ruhe, Sprach- und Schluckfunktion durch den Druck nach vorn einen frontal offenen Biss. Damit tritt eine Störung des Mundschlusses mit seinem labialen und velaren Siegel ein und es entsteht ein sich selbst verstärkender Mechanismus, bei dem der Mundraum mit dem  bereits bestehendem offenen Biss mithilfe der Zunge funktional verschlossen wird.

 

Im weiteren Verlauf führt somit die viszerale Zungenposition selbst progredient zur Verschlechterung der Dysgnathie, also auch dann, wenn die Zunge den offenen Biss nicht selbst verursacht hat.

 

 

Der therapeutische Zugang

Die Behandlung des offenen Bisses mit einem stabilen Langzeiterfolg gehört immer noch zu den schwierigsten Aufgabe der Kieferorthopädie. Und zur Verfügung stehende mögliche kieferorthopädische Interventionen wie Spikes und Zungengitter sind nicht unproblematisch... 

 

Angesichts der offenkundigen Schwierigkeit, dieses Problem in einer angenehmen Weise für den Patienten zu lösen, ist die Option einer ursächlich und schonend wirksamen Therapie notwendig.

Für den kausalen Therapiezugang ist die Betrachtung des Mundschlusses und des Lippensiegelsystems erforderlich.

 

 

Das Doppel-Siegel-System des Lippenschlusses 

Unter physiologischen Bedingungen besteht der Lippenschluss aus einem Doppel-Siegel-System: dem Lippenschluss und dem Frontkontakt zwischen den oberen und unteren Incisivi („zweifaches Ventil des Lippenschlusses“). Die Frontzähne gemeinsam mit den Lippen sorgen für den vollständigen und dichten Mundschluss, so dass enoral ein Unterdruck geschaffen werden kann.  Wenn kein positiver Overbite zwischen den Frontzähnen besteht und somit dieses Teil des Siegelsystems nicht funktioniert, kommt es zu einer pathologischen Veränderung im Siegelsystem, um eine Abdichtung des Mundes beim Schlucken herzustellen. D.h., es werden die Lippen beim Schlucken fest aufeinandergepresst und auch die Zunge presst sich reflexhaft frontal zwischen die Zahnreihen (viszerales Schluckmuster).

 

 

Die Mundschluss-Ventile

Mit dem zweifachen Ventil des Lippenschlusses (Lippen und Zähne) korreliert das dreifache Ventil des Mundschlusses, welches aus der Lage der Zungenspitze an der Papilla incisiva, des Zungenrückens am harten Gaumen und des Zungengrundes am weichen Gaumen definiert ist. Mit einer pathologisch veränderten Position der Zungenspitze interdental, um das defekte Lippensiegel zu kompensieren, geht in der Folge auch eine pathologisch veränderte Position von Zungenrücken und Zungengrund einher. Ist wiederum eines der Mundschluss-Ventile gestört, verändert sich die neuromuskuläre Koordination des gesamten und Systems und auch die Ruhelage der Zunge mit der Folge, dass sie nach kaudal absinkt und es zu einer offenen Mundhaltung kommt (Grabowski, 2009). Damit ist eine statische Funktionsstörung geschaffen (offener Mund, Mundatmung).

 

 

Assoziierte Schäden im Kontext der pathologischen Zungenlage

Die tiefe Zungenruhelage führt zu einer pathologisch veränderten Zahnbogenform (breit entwickelter Unterkiefer, zu schmaler Oberkiefer, Kreuzbissrelation intermaxillär) und die offene Mundhaltung ist der wesentliche Risikofaktor für die adenoiden Vegetationen. 

 

Ist also der Lippenschluss einschneidend gestört, verändert sich auch die Ruhelage der Zunge, und damit sind weiterhin kieferorthopädisch behandlungsbedürftige Dysgnathien bis hin zur Problematik der fehlenden Langzeitstabilität vorprogrammiert.

 

Das Schlafapnoe-Syndrom ist eine logische Folge dieses Problemkreises, denn wenn die Zunge nicht im Unterdruck flächig und physiologisch am Gaumen fixiert liegt, kann sie zwangsläufig andere, dysfunktionale Positionen einnehmen; im Schlaf in Rückenlage ist es die Verlegung nach dorsal.  

 

Der offene Biss bedeutet, dass für das Kauen, Sprechen und Schlucken andere Verhältnisse vorliegen und zwar derart, dass fehlerhaftes Schlucken und Sprechen verursacht werden (Grabowski, 2009). Das pathologische, viszerale Schluckmuster verhindert wiederum die Selbstausheilung von lutschbedingten Stellungsänderungen der Frontzähne (ebd.), hingegen, wird das interdentale Schlucken abgestellt, kommt es ohne andere interdentale Zungendyskinesien und Habits zu einer Selbstausheilung der dentalveolären Veränderung (ebd.).    

 

 

Konsequenzen für die Therapie

Nachweislich kann der pathologische Zungendruck den Verlauf und das Ergebnis einer kieferorthopädischen Behandlung sowie die Langzeitstabilität beeinträchtigen, da damit ja die Kausalität der Dysgnathie bestehen bleibt. Daher ist es sinnvoll, neben den klassischen kieferorthopädischen Therapien auch die Ursache anzugehen - also den viszeralen Zungendruck. Die orale myofunktionelle Therapie (MFT) ist erfolgreich in der Behandlung des frontal offenen Bisses. Die Kombination von myofunktioneller Therapie mit Kieferorthopädie ist nochmals erfolgreicher als die MFT allein.

 

Zügige und stabile Ergebnisse lassen die elastischen Mundvorhofplatten erwarten, wenn diese auch für Schulkinder und Erwachsene angenehm zu tragen sind. 

 

Die Stabilität in der kieferorthopädischen Behandlung ist somit die eigentliche Herausforderung, nämlich die myofunktionelle, bleibende Eliminierung der pathologischen Zungeninterposition in der Ruhelage und ein dauerhaft physiologisches Bewegungsmuster der Zungenmotorik.  

  

Unser Ziel ist also primär die Wiederherstellung des Lippensiegels, begleitet vom myofunktionellen Training der Zungenfunktion durch den Logopäden.

Damit eröffnet sich ein adjuvanter therapeutischer Zugang auch für Patienten im jugendlichen und Erwachsenenalter.

 

 Brigitte Rohdich

 

Literaturnachweis:  

 

 

Grabowski, R.; Hinz, R.;, Stahl de Castrillon, F.: Das kieferorthopädische Risikokind. Zahnärztlicher Fach-Verlag, Herne 2009

Rohdich Brigitte: Elastische Mundvorhofplatten und ihre Einsatzgebiete. MS thesis. DPU Krems, 2023. GRIN Verlag München, 2024, https://www.grin.com/document/1490619, ISBN (eBook) 9783389048184, ISBN (Buch)9783389048191