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Warum schwebt der Unterkiefer? Interdisziplinäres Denken.

 

Eine gesunde, physiologische Myofunktion ist der Schlüssel zu einer dauerhaft stabilen Okklusion.

Die Ruheschwebe des UK lässt sich durch physikalische Vorgänge erklären, die in der HNO beschrieben wurden. Man könnte auch sagen: Erfolgreiche KFO braucht Interdisziplinarität.

 

Die Ruheschwebelage.

Der Unterkiefer schwebt in Ruhe.

Keine Muskelaktivität, kein Zahnkontakt, völlige Entspannung.

Ganz egal, ob wir stehen oder liegen, wachen oder schlafen - in Ruhe schwebt der Unterkiefer. Physiologisch sind die Lippen geschlossen und die Zunge liegt am Gaumen.

Alles mühelos und entspannt.

 

Die Frage ist: Warum?

Warum fällt der Unterkiefer mit seinem Gewicht nicht einfach herunter, wenn doch alle Muskeln entspannt sind? Warum "steht uns der Mund nicht offen"? 😊

Ist es feuchtigkeitsbedingte Adhäsion? Nein, denn auch im Stress, unter Adrenalin, wenn der Mund trocken ist, fällt der Mund nicht auf.

 

Die Antwort findet sich in der HNO und ist sehr gut untersucht.

Der Schlüssel zur Ruheschwebelage liegt im Lippensiegel und im Velum.

Erinnern Sie sich? Musculus levator veli palatini. Der „Gaumensegelheber“. Wenn sich der Levator während des Schluckens hebt, richtet sich das Velum nach dorsokranial auf und verschließt den Larynx.

Warum? Nur damit sich der Bolus nicht nach oben bewegt?

Nun, die Bedeutung dieser Velumbewegung für die Kieferorthopädie liegt vor allem in der Abdichtung des Mundraumes zum Larynx hin.

Wenn wir schlucken und sowohl das palato-pharyngeale Siegel als auch das labiale Siegel geschlossen sind, muss alles in den Pharynx ausweichen - Speichel, Bolus und die im Mund befindliche Luft.

Hierdurch entsteht Unterdruck. Seitens der HNO und MKG wurde dieser in den enoralen Kompartimenten genau untersucht.

 

Der Unterdruck hält die Zunge nach der Deglutition beständig am Gaumen und somit den Unterkiefer in der Ruheschwebe.

In dieser Zeit der Entspannung legt sich das Velum dem Zungengrund an, so dass der Unterdruck zwischen dem Lippensiegel ventral und dem Velum-Zungen-Kontakt dorsal erhalten bleibt.

Erst in dem Moment, wenn die Lippen geöffnet werden oder die Zunge willkürlich abgesenkt wird, lösen sich die Ruheschwebelage des Unterkiefers und die Zungenruhelage am Gaumen wieder auf.

Probieren Sie es aus: Nach dem Schluckvorgang, wenn die Zunge dicht am Gaumen liegt, bewegen Sie einmal bei geschlossenen Lippen die Zunge ein kleines Stück vom Gaumen weg. Nach diesem Lösen wird sich der Unterkiefer einfach absenken, bis hin zur Mundöffnung.

 

Warum also schwebt der Unterkiefer?

Weil Unterkiefer und Zunge durch den beim Schluckakt ausgebildeten Unterdruck in ihrer physiologischen Ruheposition gehalten werden.  

Voraussetzung hierfür sind geschlossene Lippen resp. ein Lippensiegel einerseits und das velare Siegel andererseits. 

"Following each deglutition, evacuation of the oral cavity takes place, resulting in closure of the oropharyngeal und labial seal [...] holding the tongue and the velum in a contact position to the hard palate based on a ´vacuum mattress mechanism´" (Engelke et al, 2006).

Der Schlüssel für eine physiologische Ruheschwebelage und Zungenruheposition liegt also in der Ausbildung eines enoralen Unterdrucks, der während der Deglutition durch das zum Larynx abdichtende Velum und das Lippensiegel bewirkt wird.

 

Und warum steht der Unterkiefer bei manchen Menschen offen?

In der Regel weil der vordere Mundschluss nicht funktioniert. Dann kompensiert die Zunge selbst das defizitäre Lippensiegel für den Schluckakt und positioniert sich nach ventral, damit eine Abdichtung zur Deglutition überhaupt  zustande kommen kann. In der Folge liegt die Zunge in Gänze zu weit vorn, so dass auch das hintere Mundschlussventil gestört ist. Dadurch kann jedoch kein enoraler Unterdruck aufrecht erhalten bleiben. Der Mund fällt auf. Anstatt zu einer Ruheschwebe kommt es also ohne Lippensiegel zu einer offenen Mundhaltung mit all ihren kieferorthopädischen Folgen.

 

Wie lässt sich erreichen, dass bei einem offenen Biss die Ruheschwebelage und die korrekte Zungenruhelage wieder hergestellt werden?

Indem die Voraussetzungen hierfür geschaffen werden, i.e. geschlossene Lippen und Frontzahn-Overbite, resp. das Lippensiegel mit einer elastischen ansaugbaren Mundvorhofplatte während der Therapie substituiert wird.  

 

Und - Hand aufs Herz - haben Sie´s gewusst?

Wurde der enorale Unterdruck in Ihrer Prothetik- oder Kieferorthopädie-Vorlesung überhaupt einmal zum Thema gemacht?

Wurde Ihnen jemals erklärt, wieso es eine Ruheschwebe gibt und warum sie notwendig ist?

 

... KFO NEEDS HNO.

Wie wäre es, wenn auf unseren Kongressen und Fortbildungen auch einmal Professor:innen für HNO, Professor:innen für Logopädie und Professor:innen für Physiotherapie sprechen würden?

Obwohl wir genau wissen, dass die "funktionelle Matrix" hoch relevant ist, blicken wir oft genug allein auf Zähne und Mechanik.

Dabei macht es Sinn, die Interdisziplinarität zu leben, die wir uns und unseren Patienten so gerne wünschen. 

 

Brigitte Rohdich

 

 

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